Johanna Cavagno

* 1939

  • „Heimat? Im ganz engen Sinne, wirklich in Wort, ist Böhmen. Das ist einfach Heimat. Wo einfach deine ganzen Wurzeln sind. … Heimat ist es schon. Das kann man nicht herausreissen. Das ist einfach da. Freilich, wahrscheinlich wenn ich jetzt umziehen würde, würde ich Sehnsucht oder Heimweh haben nach hier, nach Österreich, ganz klar. Aber es hat erstens sehr lange gebraucht, diese Ablehnung, die hier auch bestanden hat, vorallem durch Unkenntnis, Grossteil durch Unkenntnis. Das war auch in der österreichischen Verwandtschaft. Die war immer da, man hat sich unbewusst immer als Aussenseiter gefühlt. Nicht einmal so behandelt, aber gefühlt.“

  • "Dann sind wir – es hat einige Tage gedauert, bis wir quer durch Ostdeutschland und Bayern bis Salzburg kamen. Dort konnten wir über die Grenze. Wenn ich mich an diese Reise erinnere, dann habe ich sie als schön, na ja nicht schön, sondern als Kind sehr sicher empfunden. Weil zum ersten Mal war die Mutter die ganze Zeit da. Wir haben sie oft nur stundenweise gesehen, sie war immer wieder weg, geschaut, wo ist der Vater, was kann man ihm bringen. Wir waren oft allein. Und da war jetzt die Mutti den ganzen Tag da. Das war eigentlich sicher. Es war klar, dass die Erwachsenen Angst hatten, auch wegen den Russen, die oft willkürlich etwas verlangt haben, irgendwelchen Alkohol oder Schmuck oder Uhr, oder was halt war, und erst dann wieder erlaubt haben, dass der Zug wieder weiter fahren kann. An der Grenze hiess es dann, es darf keiner aussteigen. Und es mag auch keiner ausgestiegen sein ausser meiner Mutter, für die haben solche Dinge nicht mehr gegolten. Da ist sie auf den Bahnhof und hat den Bruder in Vöklamarkt angerufen, das ist in der Nähe, ungefähr 60 Kilometer von hier, weil er dort Bahnvorstand war in dem kleinen Ort, und sie hat eben gesagt: ‚Wir sind da.‘ Er hat dann den Zug aufgehalten in Vöklamarkt, weil wir sonst hätten mit allem nach Linz oder na Wien, und da hätten wir gar nicht zurück können, Wien war ja russiche Zone. Er hat den Zug aufgehalten und sie haben unser Gepäck so schnell wie möglich herausgeholt. Und genau in dem Moment, als da alles auf dem Bahnsteig war, wir zwei Kinder sassen auf einem alten Sofa, raste eine Lokomotive durch. Die hatte ein betrunkener Russe sich hier in Wels organisiert und ist so lang gefahren, so lang eben Kohle drin war. Und zwar mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Da stand zum Glück ein Verwandter der Tante neben uns und hat sich auf uns zwei Kinder draufgeworfen, sonst hätte es uns in die Lokomotive hineingerissen. Das muss man sich vorstellen: der letzte Rest von unserer Habe ist durch die Luft geflogen.“

  • "Es (das Lager) muss also, ganz am Anfang, das muss irgendein Gerichtsgebäude gewesen sein, das weiss ich nicht, das kenne ich nur aus Erzählungen. Und ich will nicht so draufgehen, denn das waren die Erzählungen meines Vaters, die waren ensetztlich und furchtbar, die wir als Kinder, oft weil wir sehr beengt gewohnt haben, mitbekommen haben, mitgehört haben. Ich weiss nur eine einzige Situation, wo mein Vater mit mir selbst gesprochen hat, das war Jahre später. Das muss zu Allerheiligen gewesen sein, und da werden auch immer für die gefallenen Soldaten Andachten abgehalten. Und vor der Kirche in dem Ort gab es einen Kriegerdenkmal. Und da war eine kurze Andacht und da wurde, es wird heute eigentlich nicht mehr gespielt, das Soldaten-Lied „Ich hatte einen Kameraden“ gesungen. Da hat mich mein Vater an der Hand genommen und weggerissen, schnell, ich musste laufen, ich konnte ungefähr elf, zwölf Jahre gewesen sein, und er hat furchtbar geweint. Dann hat er mir nur noch gesagt: ‚Dieses Lied kann ich nie mehr hören, weil das haben wir immer gesungen, wenn einer seinen letzen Schrei gemacht hat.“ Das war seine Erinnerung, die er mit mir geteilt hat."

  • „Aber vielleicht ein Satz, der einiges sagt, und zwar, meine tschechische Grossmutter hat einmal, das muss ziemlich zu Ende gewesen sein, zu meiner Mutter gesagt: ‚Weisst du, das ist eigentlich unglaublich, dass mich der Hans , also mein Vater, so aufgenommen hat.‘ Wie sie dann so schwer krank war, und meine Mutter war ganz erstaunt : ‚Na, wieso denn nicht?‘ ‚Weil ich doch Tschechin war.‘ Das war kein Thema. Es gab auch die vielen tschechischen Verwandten in Prag zum Beispiel. Oder auch in der Nähe von Teplitz.“

  • Full recordings
  • 1

    Wels, Rakousko, 21.11.2023

    (audio)
    duration: 02:04:46
    media recorded in project The Removed Memory
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Meine Heimat ist immer noch Böhmen. Aber wenn ich jetzt dorthin ziehen würde, würde ich Österreich vermissen.

Kleine Johanna in Teplitz
Kleine Johanna in Teplitz
photo: Pamětnice

Johanna Cavagno wurde am 31. März 1939 in Teplice als Johanna Breindl in einer deutschsprachigen Familie geboren, aber ihre Großmutter mütterlicherseits war Tschechin. Beide Eltern arbeiteten in einer Zinkblechfabrik, der Vater als Betriebsleiter und die Mutter im Büro, da sie Tschechisch sprach. Als Kind nahm Frau Cavagno den Krieg nicht besonders wahr, aber nach Weihnachten 1944 begannen auch die Kinder den Ernst der Lage zu erkennen. Am Ende des Krieges wurde ihr Vater verhaftet und verbrachte anderthalb Jahre getrennt von der Familie, die erst 1947 in Österreich wieder zusammengeführt wurde. Frau Cavagno ging 1946 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Österreich, weil ihre Mutter sich weigerte, nach Deutschland abgeschoben zu werden. Während des Transports fühlte sich die kleine Johanna jedoch sicher, denn schließlich war ihre Mutter die ganze Zeit bei ihr. Nach schwierigen Anfängen bei Verwandten väterlicherseits verbesserte sich die Situation der Familie ab 1955, und die hochbegabte Schwester ging zum Studium nach Amerika. In Österreich wurde Frau Cavagno Sozialarbeiterin, half unehelichen Kindern und lebt noch heute mit ihrem Mann, ihren Kindern und Enkelkindern dort.