Franz Gruss

* 1931

  • Aber dann, als die Russen vorbei waren… war ich neugierig, öffnete die Haustür und in der Haustür nebenan, da war ein Deutscher Nachbar, den ich noch vorher kennenlernte. Ein erwachsener Mensch, ein Alleinstehender. Und man sagte: „Das ist ein Sozialdemokrat, das ist ein Freund der Tschechen.“ Und die Russen waren durch, ich öffnete die Haustür und im selben Moment mein Nachbar auch, neugierig, was jetzt ist. Und da trifft ihn eine Kugel von der anderen Straßenseite, er fällt zwei Meter von mir um und das sollte der erste Deutsche sein, den ich gesehen habe von den Tschechen erschossen zu werden. Der erste. Und dann geschah etwas Schreckliches. Meine Eltern waren auch schon da. Und ich sehe, man treibt Leute durch die Straßen, schlägt sie, es gehen Tschechen mit Armbinden, heute weiß ich es waren die Revolutionsgarden. Und die holen ihre deutschen Mitbürger aus den Wohnungen und jagen sie durch die Straße von oben nach unten und ich weiß, da unten war eine Kirchenmauer, an der sie erschlagen wurden. Es war schrecklich sich anzusehen, was geschieht den da. Und plötzlich ruft meine Mutter am Fenster: „Schau, da ist der Pepp!“ Und da führten sie meinen Onkel. Mein Vater sah den Onkel zum ersten Mal seit vier Jahren. Mit zerschundenem Gesicht bereits, musste er seinen eigenen Sarg auf dem Wagen führen um unten dann erschlagen zu werden. Und aus dem Haus selbst die tschechische Frau, ich weiß noch ihren Namen, Frau Husák, springt raus, spuckt ihn an, feigt ihn, ihm fällt die Brille zum Boden. Und er muss, Spaten geschultert, weiterlaufen, fällt aber dann irgendwo aus Schwäche um. Er muss schon vorher schwer geschlagen worden sein. Und dann hat man ihn auf diese Kiste gelegt, die er fahren musste, und es heißt er soll einen Gnadenschuss gekriegt haben zuletzt da unten.

  • Jeder ist halt gelaufen, gelaufen, gelaufen. Da sind immer Menschen zurückgeblieben in den Straßengraben, was mit ihnen geschehen ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur wir wurden weniger. Und dann in den Viehwagons hat man gedacht jetzt werden wir endlich irgendwo hingefahren. Nein, nächsten Morgen mussten wir raus, es war nur für die Nacht, wir sind weiter ohne Orientierung gelaufen und dann irgendwo gab es eine Lichtung, es war im Waldgebiet. Und auf der großen Wiese sind wir ermattet herumgelegen, die wir so weit gekommen waren. Und ich schätze heute, dass wir da vielleicht sechs hundert waren. Und dann mussten wir zu hundert antreten, in Fünferreihen, fünf Leute mal zwanzig. Die ersten Hundert mussten antreten und wurden in den Wald geführt. Die waren jetzt weg und wir hörten Detonationen und da haben wir gewusst, es ist die Exekution, jetzt kommen wir ums Leben. Dan sind die nächsten Hundert zusammengetrieben wurden, mit Schlagstöcken schon, weil dann hast du ja Angst. Einmarschiert in den Wald. Wieder Detonationen, die uns glauben machten, wir werden erschossen. Aber es war nicht so. Diese Detonationen – ich sage es jetzt voraus – das waren noch Minen. Da war ein Kriegsgeschehen gewesen und da waren noch Tretminen gelegen. Und da ist natürlich Einer oder der Andere totgegangen. Das waren die Detonationen. Aber zunächst einmal waren wir ja zu Hundert dagestanden. Und dann kam eine Leibesvisitation und dann wurde uns noch das letzte, was jeder bei sich hatte, noch abgenommen. Meinen Eltern die Eheringe, Dokumente, alles. Wir hatten nichts, absolut nichts. Und dann hat man uns gesagt: „Und hier geht ihr und da seid ihr in Deutschland, dort gehört ihr hin!“ Und die letzten Wörter, die ich gehört habe, waren: „Wer zuletzt kommt, kriegt die Kugel in den Kopf. “

  • Es waren grausliche deutsche Lieder, die man damals auf den Lippen gehabt hat und die ich heute noch zum Teil wiedergeben kann. Wir haben beispielweise…. wenn ich jetzt zu den Tschechen spreche, erinnere ich mich auf ein tschechisches Lied. Ich darf es ihnen vorsingen, wenn sie wollen. „Byl sobě židáček, měl v kapse šestáček, sednul si na tramvaj a dělal: vaj, vaj, vaj. Přišel policajt, chytl ho u (za?) vlasy. Ty žide pajzlatý, ty patříš do basy. Basa se otvírá, žida zavírá, židovky plakají, že žida nemají.“ (Es war ein Jude, er hatte ein Paar Groschen in der Tasche, er setzte sich in die Straßenbahn und machte wei, wei, wei. Es kam die Polizei, fang im beim Haar. Du Jude mit Locken, du gehörst ins Loch. Das Loch öffnet sich, der Jude wird geschlossen, die Jüdinnen weinen, dass sie den Juden nicht haben.) Ich schäme mich heute dafür, so etwas zu singen, aber als Kind hat man das… Sie sehen, es hat auch einen tschechischen Antisemitismus gegeben, offensichtlich, sonst hätten wir Solches nicht erlernt. Ich habe es auf der Straße gelernt, ich habe überhaupt mein Tschechisch auf der Straße gelernt.

  • Es ist mir sehr sehr wichtig hier jetzt zu sagen: Ich habe meine Kinder im folgenden Sinne erzogen – ich habe gesagt es ist in erster Linie wichtig, das aufzuarbeiten, was im Namen unserer Nation passiert ist. Was den Holocaust anbetrifft, das ist unsere Sache und das ist in erster Linie, was ich euch weitergebe, und was ihr euren Kindern auch wieder weitergeben sollt, dass sich Solches nie wieder wiederholt. Denn ich weiß, dass alles, was mir und meinen Eltern an Unheil geschehen ist, hat eine Vorgeschichte gehabt und das ist im Namen unserer Nation verbrochen worden.

  • Full recordings
  • 1

    Praha, 20.04.2019

    (audio)
    duration: 01:57:36
    media recorded in project Inconvenient Mobility
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Es ist in erster Linie wichtig, das aufzuarbeiten, was im Namen eigener Nation passiert ist

Franz, 1941
Franz, 1941
photo: pamětník

Franz Gruss kam am 1. Januar 1931 in einer deutschen Familie mit teils polnischen, teils tschechischen Wurzeln im damaligen Mährisch Ostrau (Moravská Ostrava) zur Welt. Die Mutter konnte Tschechisch, aber in der Familie sprach man nur deutsch. Er sprach mit der Großmutter tschechisch und „auf der Straße“. Der Vater war Drucker und die Mutter unterhielt in der geräumigen Wohnung eine Schneiderei. Nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei (Herr Gruss selbst verwendet diesen Begriff) erhielt die ganze Familie die deutsche Staatsbürgerschaft. Franz trat dem Deutschen Jungvolk bei (Nachwuchs der Hitlerjugend), der ältere Bruder diente und fiel 1943 auf der Krim. Der Vater im fortgeschrittenen Alter musste nicht in den Krieg. Franz hat verschwommene Erinnerungen an einen halbjüdischen Mitschüler und Berichte über die Verbrennung der Ostrauer Synagoge. Nach den ersten Bombenangriffen auf Ostrau kam er ins Internat nach Friedeck-Mistek (Frýdek-Místek), wo er u.a. militaristischer Indoktrination ausgesetzt war. Er erinnert sich auch an antisemitische Lieder aus der Kindheit. Das Kriegsende erlebte er bei seiner Tante in Bruch bei Brüx (Lom u Mostu), wo er nah bei Dux (Duchcov) Zeuge eines Lynchmords an einem kanadischen Piloten wurde, aber im Mai auch des Einzugs der sowjetischen Soldaten, des Mordes an einem deutschen Nachbarn von Seiten der Tschechen und des Zuges der örtlichen deutschen Einwohner (einschließlich seines leiblichen Onkels Josef) zur Kirche, wo sie ermordet wurden. Er wurde auf dem Heimweg aus Bruch nach Ostrau in Prerau (Přerov) zusammen mit seinen Eltern festgenommen, der Vater eingesperrt und misshandelt. Franz und seine Mutter wurden nach der Zurückweisung durch den tschechischen Onkel und einem Treffen mit aggressiven Mitglieder der Revolutionsgarden (Rettung durch einen entfernt bekannten Juden) im Lager Mexiko interniert und zur Feldarbeit geschickt. Bald wurde er zusammen mit den Eltern als für die Arbeit ungeeignet eingeteilt und auf den Marsch nach Troppau geschickt, sowie am nächsten Tag zur Grenze. Auf dem Weg sah er erschöpfte Leute in die Gräben fallen. Die Vertriebenen wurden auf einer Waldlichtung gesammelt und anschließend über explodierende Tretminen zur Grenze gejagt, wo in der Zeit schon Polen war. Dort lebte er eineinhalb Jahre, arbeitete bei örtlichen deutschen Bauern und übersetzte für polnische Soldaten bis zur letzten Phase der Vertreibung polnischer Deutscher, denen sich die ganze Familie anschloss. Die Vertriebenen waren danach in der DDR, Franz studierte in Leipzig auf der Handelsschule und emigrierte erst 1951 nach Westdeutschland (schwarz in der Nacht auf einem Güterzug). Franz lebt heute bei Heidelberg und betätigt sich seit dem Renteneintritt als Reiseführer, vor allem nach Polen und die Tschechische Republik. Er lernt Polnisch und Tschechisch. „Es ist in erster Linie wichtig, das aufzuarbeiten, was im Namen unserer Nation passiert ist,“ sagt er und begleitet die Touristen u.a. auch nach Auschwitz