Rudolf Kiesewetter

* 1932

  • Wir waren drei Wochen in Reinowitz und drei Wochen waren wir in Reichenau. Da haben wir gedacht, jetzt kommen wir fort, aber ja, ins nächste Lager, nach Reichenau. Da war es das Selbe. Da war der „velitel“, der war bekannt gewesen, es war unser Schinderhannes, der hat halt die Leute angebrüllt, wie Gefangene sind sie behandelt worden, wie Gefangene, alle, bis wir in dem Viehwagon rein waren. Da waren wir ja, wen wir aus dem Lager raus waren. Und wir sind alle zusammen geholt worden aus allen Winkeln, keine Verwandte dabei. Aus dem Ort waren schon manche dabei, aber die haben wir alle nicht gekannt, weil wir ja so außerhalb gewohnt haben. Wir haben die Leute nicht gekannt, die mit uns ausgesiedelt wurden. Wir sind dann in Reichenau in die Viehwagons gekommen und aus den Viehwagons sind wir nicht mehr raus, das war dann unsere Heimat, da lag dann das Gepäck drinnen, die 30 kg. Meine Mutter hatte damals ein Federbett genommen mit uns, das war das einzige. Wir hatten ja nichts zum Mitnehmen. Wir haben kein Schmuck gehabt und gar nichts, wir waren arme Leute. Die Eheringe, das weiß ich. Es gab so ein Teddy-Bär, dem hat sie den Bauch aufgeschnitten und da tat sie es in den Teddy-Bären rein.

  • Und in dem Lager waren wir eben drei Wochen, in Reinowitz. Jeden Tag dasselbe. Und wir als Jungen, wir hatten halt immer Hunger. Ich bin nie satt geworden. Ich hätte auch nie genug kriegen können, der Appetit war ja immer da, als Junge. Wir waren ja gesund und alles… Aber was da in dem Lager auch war, das waren die, die nicht pariert haben oder die irgendwie stumm gemacht haben, die wurden da etwas böser behandelt. Wenn sie sich aufgemotzt haben, kamen sie in den Bunker rein. Und wenn sie das nicht gemacht haben, was die Alle wollten, man musste ja immer Ja sagen. Und da ist mancher im Bunker drinnen geblieben. Es ist mancher drinnen gestorben.

  • Die Heimat ist da, wo man geboren ist. Ich sage, ich wäre nie von meinem Berg da oben weggegangen, wenn ich eine Arbeit hätte. Ich wäre immer daheim geblieben, ich hätte es nie im Stich gelassen. Wenn ich jetzt herüberfahre, dann setze ich mich auf einen Stein, Steine hatten wir genug auf unserem Grundstück, und da bin ich daheim. Die zweite Heimat ist niemals die erste. Aber heute sage ich natürlich: Wohnen möchte ich da nicht mehr, weil es sind keine Freunde da. Es sind keine Nachbarn da. Was will ich dann dort? Unter Heimat versteht man auch Nachbarn, Freunde und so weiter. Aber trotzdem hat man Sehnsucht nach dem Stückchen Erde, wo man damals wirklich zu Hause war. Es war ja so, die Großeltern haben es schon gehabt. Die haben Deutsch gesprochen. Es waren die Urgroßeltern, die Deutsch gesprochen haben. Wir waren ja Jahrhunderte da oben auf dem Berg.

  • Full recordings
  • 1

    Weidenberg, SRN, 29.05.2019

    (audio)
    duration: 01:24:03
    media recorded in project The Removed Memory
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Die Älteren sind verstorben, die Jungen müssen zusammen halten

Rudolf Kiesewetter, Weidenberg, Mai, 2019
Rudolf Kiesewetter, Weidenberg, Mai, 2019
photo: Pamětník

Rudolf Kiesewetter wurde am 26. September 1932 in Neundorf an der Neiße (Nová ves nad Nisou) als dritter von vier Söhnen von dem ärmlichen Schlosser und Werkzeugmacher Hartwig Ernest und Frieda Kiesewetter geboren. Zuhause sprach man in der Familie deutsch, bzw. im lokalen Dialekt „paurisch“. Ab 1937 ging Rudolf in einen Kindergarten im Gablonzer Bad Schlag (Jablonecké Paseky), den zwei Jüdinnen führten. Der Vater Hartwig musste im Unterschied zu den meisten nicht in den Krieg, weil er für die Distribution der Lebensmittelscheine zuständig war, bei deren Zustellung ihm die Söhne halfen. Der älteste Bruder Heinz wurde zum Ende des Krieges in die Armee zur Fliegerabwehr einberufen und fiel im Januar 1945 in Posen (Poznaň). Der zweitgeborene Bruno wurde, obwohl noch nicht mal achtzehnjährig, in den Reichsarbeitsdienst (RAD) nach Mährisch Trübau (Moravská Třebová) einberufen, von wo er nach Danzig und anschließend in amerikanische Gefangenschaft floh und die Familie erst nach der Vertreibung in Hessen wieder traf. Der kleine Rudolf ging derweil in die Schule – also bis Mai 1945. Zum Kriegsende kam über Künast (Kynast) die Rote Armee und die Frauen versteckten sich. Nach ihnen kamen tschechische „Partisanen“, die sich nachweislich schlechter benahmen. Anfang Januar 1946 starb die Großmutter und dem Vater wurde die Teilnahme an der Beerdigung verweigert. Bald musste er auf einen sog. Hungermarsch zu Fuß nach Friedland (Frýtlant) und nach paar Tagen wieder zurück. Zwischen Ende Januar und Mitte März 1946 wurde die Familie über die Lager in Reinowitz (Rýnovice) und Reichenau (Rychnov) nach Deutschland abgeschoben. Die Familie wurde im hessischen Glauben angesiedelt und zog, als sie den Bruder und Vater über das Rote Kreuz gefunden hatten, nach Coburg um. Rudolf ging nicht mehr zur Schule und nahm ab vierzehn Jahren eine Gelegenheitsarbeit nach der nächsten an. Er heiratete die aus dem Freiwaldauer Kreis (Jesenicko) ausgesiedelte Gerlinde Dretschak. Vorrangig arbeitete er in seinem erwachsenen Leben als Postangestellter.