Annelies Hennig

* 1939

  • Nein, man durfte nicht (in der DDR über die Ausweisung sprechen). Mein Vater hat mal was erzählt und er wurde dann belehrt, dass es keine vertriebenen Deutschen gibt, die Vertriebenen sind die Palästinenser. Deutsche sind nie vertrieben worden, weder in Polen, noch in der Tschechoslowakei.

  • Ich habe schon erzählt, dass die Männer und Frauen getrennt wurden. In der Früh war Appel, da mussten die Kinder vorne, die Mütter hinten, die Männer auf der anderen Seite, die wurden jeden Tag aufgerufen und gingen in einer großen Arbeitsgruppe. Mein ältester Bruder war neun, der hat sich dann heraus geschlichen und ist zu meiner Tante, zum Bruder von meinem Vater. Er wusste scheinbar, wo sie wohnten und da hat er abends immer ein Bisschen Essen mitgebracht. Also wir hatten immer Hunger. Es gab Tee oder braune Brühe zum Trinken. Und dann war dort so ein Plumpsklo, das hat immer so gestunken. Es war halt spartanisch, es ist halt so.

  • Wertgegenstände nicht. Ich weiß noch, mein Vater hatte so eine kleine Standuhr, die wollten sie ihm auch wegnehmen an dem Güterbahnhof und da hat er so gebettelt und sie haben ihm die Uhr gelassen. Die hat man noch lange in Weimar gehabt, bis sie zerfallen ist. Meine Mutter hatte in dem einen Korb die Wäsche, ihre Aussteuer, und die hat sie natürlich gehütet. Ansonsten kein Kinderspielzeug. Meine Schwester hatte einen Teddybären, den hat sie auch gehütet, obwohl es schon auseinander fiel, die Sägespäne fielen auseinander. Und was meine Mutter mitgenommen hat, war so ein Stoffbeutel mit Salz. Und das konnte sie tauschen, weil Essen ohne Salz hat keinem geschmeckt. Sie hat gewusst, warum sie das mitnimmt.

  • Bei uns unten am Haus floss ein Bach vorbei, den gibt es noch, mit einem Steg, da konnte man eine kleine Brücke darüber laufen, hoch zur Straße wo die Straßenbahn fuhr. Wir durften da nicht in dem Bach spielen. Aber meine Großmutter, die hat am 14. Mai 1945 den Freitod gewählt. Dieser Bach mündete in einen Teich. Da waren Schießereien in der Nacht, dass weis ich von den Eltern, und sie hat sich da ertränkt. Ich bin da als Kind mal hingeschlichen, hat mir das angeguckt, hinter dem Haus, man musste da ein Stück laufen. Jetzt ist da so ein Freizeitzentrum und da gibt es noch diesen Bach und eventuell diesen Teich.

  • Full recordings
  • 1

    Weidenberg, Německo, 29.05.2019

    (audio)
    duration: 01:12:42
    media recorded in project The Removed Memory
  • 2

    Pegnitz, SRN, 12.07.2020

    (audio)
    duration: 01:48:21
    media recorded in project The Removed Memory
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In der DDR durften wir über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nicht sprechen

Annelies Hennig - dobová fotografie před rokem 1989
Annelies Hennig - dobová fotografie před rokem 1989
photo: Pamětník

Annelies Hennig, gebore Weigelt, wurde am 2. Oktober 1939 in Gablonz (Jablonec) geboren und verbrachte ihre früheste Kindheit in Reichenberg (Liberec). Die Mutter Hedwig kam aus einer Glaserfamilie aus Gablonz, der Vater Richard arbeitete bei der Bahn. Nach dem Krieg regierte in Reichenberg Chaos und Gewalt. Großmutter Anna beging am 14. Mai 1945 Selbstmord. Kurz darauf musste der Rest der Familie das Haus verlassen und wurde im Sammellager in Reichenberg auf dem ehemaligen Sportgelände interniert. Nach einigen Wochen wurden sie in der Nacht in offenen Güterwaggons nach Zittau überführt. Der Vater sollte ursprünglich in Tschechien bleiben, aber nachdem die Mutter einen Nervenzusammenbruch hatte, durfte die Familie zusammenbleiben. Der Vater fand nach einer Typhus-Erkrankung Arbeit bei der Bahn in Weimar, wohin die Familie umzug. Der Nervenzustand der Mutter verbesserte sich nicht, weshalb die Kinder vier- oder sogar fünfmal in Kinderheimen und in Klöstern bei Nonnen untergebracht waren. Die Großeltern und Geschwister der Eltern lebten im westdeutschen Bayreuth, wo Annelies sie anfangs besuchte und noch 1955 auf der Beerdigung ihres Großvaters war, doch im Westen zu bleiben traute sie sich nicht. Nach der Schule ging sie zur Lehre in die Jenaer Optikwerke Carl Zeiss und heiratete mit achtzehn Jahren den „politisch unzuverlässigen“ Artisten und Varieté-Künstler Gerolf Hennig. Sie traten auch im Ausland auf, durften allerdings nur ins sozialistische. Eine ihrer drei Töchter heiratete einen Polen, mit sie nach West-Berlin zog. Frau Annelies traf sich in der DDR mit keinen Sudetendeutschen und sprach selbst mit ihren eigenen Kindern nicht über die Vertreibung ihrer Familie aus der Tschechoslowakei. Das Thema war in der DDR tabu. Im Sommer 1989 bekam das Ehepaar Hennig nach Jahren vergeblicher Anträge die Erlaubnis in den Westen auszureisen. Nach einer Aufführung in Nürnberg entschieden sie sich nach entscheidenen Wendepunkten in der BRD zu bleiben und ließen sich im bayerischen Pegnitz nieder. Auch ihre jüngste Tochter Katrin war währenddessen mit Mann und Kind in den Westen gegangen, die mit Hunderten anderen Mitbürgern zusammen über Prag geflohen war, wo sie einige Zeit im Gebäude der westdeutschen Botschaft verbrachte.