Josef Sager

* 1932

  • Am sechsten Tag sind wir dann zusammengetrommelt worden und mussten dann zum Bahnhof uns begeben. Von den 50 kg Handgepäck sind noch etwa 20 kg übriggeblieben, denn alles andere haben sich die Wachposten genommen, was sie für wertvoll gehalten haben. Und man durfte sich nicht dagegen wehren. Wir marschierten zum Bahnhof mit unserem wenigen Gepäck, auf den Straßenrändern standen Zigeuner und die Partisanen und die Fanatischen und schlugen auf uns ein, warfen Steine, bespuckten uns. Und als wir dann am Bahnhof ankamen, stand ein Zug bereit mit Viehwagons, die nicht gesäubert waren vom letzten Viehtransport, da lag der Kuhdreck noch in den Wagons. Und dort mussten wir immer vierzig Personen in einen Wagon hinein, samt Gepäck, samt drei Kinderwagen in unserem Wagon und das selbstfahrende Fahrzeug meines Vaters. Sie können sich vorstellen die kleinen Viehwagons, wieviel Platz da noch übrigblieb. Man konnte gerade noch stehen, zum Hinsetzen war kaum Platz. Am späten Nachmittag hat sich der Zug dann in Bewegung gesetzt und das war ein Augenblick, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Plötzlich erschall aus allen Kehlen (es waren elf Wagons, die da an der Loko hingen), aus allen Wagons erschall das Böhmerwaldleid, „Tief drinn im Böhmerwald, wo meine Heimat war.“ Tränen flossen, die alten Menschen weinten, wer noch dazu fähig war, gebrauchte Fluchworte und Verwünschungen gegenüber den Herrschenden jetzt dort. Die letzte Schleife rund um die Stadt mit dem Zug, denn das Geleis geht ja rund um die Stadt herum, haben wir dann noch gewunken und geschaut und dann waren wir vier Tage lang auf tschechischem Gebiet unterwegs, niemand wusste, wohin es geht. Die Gerüchte gingen von Sibirien bis nach Australien, wo man uns hinbringen wird, aber alle hofften, dass es nicht so weit kommen wird, dass es nur für eine kurze Zeit ist, dass wir wieder bald unsere Heimat besuchen dürfen.

  • Diese Partisanen, die ich vorher erwähnte, raubten und stahlen alles, was sie fanden. Sie mordeten ohne Hemmung und die Deutschen waren Freiwild. Damals gab es für Deutsche keine Schulen, Veranstaltungen durften nicht besucht werden, Lebensmittelkarten wurden drastisch gekürzt, Fleisch, Fisch, Ei oder Milch gab es für die Deutschen überhaupt nicht, die Wohnungen durfte man zwischen 19 Uhr abends und 7 Uhr früh nicht verlassen, für Deutsche gab es keine Rechte in keiner Weise. Wir mussten beispielsweise einen Film ansehen über deutsche Konzentrationslager, sogar Kinder mussten diesen Film ansehen mit den Hunderttausenden von Toten, obwohl ich persönlich für mich sagen muss, wir, meine Familie und ich, wir haben bis zum letzten Tage des Kriegsendes nichts von diesen Konzentrationslagern gewusst. Wir mussten uns diese Filme ansehen, sonst hätten wir keine Lebensmittelkarten, die sowieso schon gekürzt waren, bekommen.

  • Viele versuchten damals, man hörte schon, dass die Deutschen ausgewiesen werden sollen, viele versuchten damals etwas über die grüne Grenze zu schaffen. Und auch ich als Vierzehnjähriger habe mich einer Gruppe angeschlossen und mit einem 20 Kg schweren Rucksack sind wir bei Nacht und Nebel über die tschechisch-bayrische Grenze geschlichen und haben in Mauth in Bayern unsere Sachen deponiert. (Die wir übrigens nie wieder zurückbekommen haben, angeblich haben sie die Amerikaner alle mitgenommen. Aber erst später haben wir erfahren, dass die Wirtin dort, wo wir die Sachen deponiert haben, in einem Safe Hunderte von Uhren, Eheringen und derartigen Dingen aufbewahrt hatte, worüber sich dann die Erben stritten). Ja, wir haben dann in Mauth übernachtet, bzw. haben bei Abendstunden etwas geschlafen und sind dann beim Einbruch der Dunkelheit wieder zurück über die Grenze. Plötzlich, als wir die Grenze überschritten, überschreiten wollten, kamen aus dem Wald Grenzsoldaten raus, beschossen uns und haben uns verhaftet. Einer ist dabei zugrunde gegangen, einer ist dabei getötet worden und sechzehn von uns hat man in einen Keller in Buchwald eingeschlossen und dort hat man uns jeweils drei Personen zusammengebunden und entsprechend behandelt. Wir wurden geschlagen, wir wurden bespuckt, wir wurden vernommen und immer wieder mussten wir uns rechtfertigen, warum wir über die Grenze gegangen sind, aber es half alles nichts. Fünf Tage sind wir in diesem Keller eingeschlossen gewesen. Am nächsten Tag haben sie einen von uns, den Älteren, nach Winterberg geschickt und der musste Geld mitbringen und pro Person hat er uns dann mit drei hundert Kronen ausgelöst.

  • Waffen- und Munitionslager gab es überall. Die deutschen Soldaten, die durch Winterberg kamen, die vom Inneren des Landes herkamen, kapitulierten und ihre Waffen, ihre Fahrzeuge wurden in der Bahnhofstrasse in Winterberg abgestellt. Und wir Jugendlichen, wir hatten immer noch das Kämpfen, den Krieg im Blut und hatten da etliche Dinge angestellt, die man heute für unmöglich halt. Wir hatten beispielsweise auf den Munitionslagern und an den Abstelllagern der Fahrzeuge Patronen gefunden, die für Panzer bestimmt waren, es waren so 40-60 cm lange Panzerpatronen. Diesen Patronen haben wir die Spitzen über Steine abgeschlagen und in den Hülsen fanden wir diese Phosphorstäbchen. Mit diesen haben wir Zündschnüren gefertigt und unter einen Panzer oder ein Fahrzeug gelegt. Die Säckchen mit Schwarzpulver haben wir darüber gehäuft und Steine drauf, und die Panzer und die Fahrzeuge in die Luft gesprengt. Also gefährliche Dinge, unvorstellbar für heute. Wir haben auch Handgranaten gefunden unten am Bach, zwei Kisten, und an den Handgranaten waren solche Kapseln drauf, die man ziehen, entschärfen musste, und bis fünf zählen, diese Granaten wegschmeißen und diese Kapseln, die uns dann in der Hand blieben, haben wir an den Gürtel gehängt und waren stolz, wieviel Handgranaten wir schon in die Luft gesprengt haben. Ein tragisches Erlebnis hatte ich mit einem Freund, der hatte eine Panzerfaust, die er abgeschossen hat. Er wusste aber nicht, dass man die Panzerfaust nicht anlegen darf, da hinten ja ein großer Feuerstrahl herauskommt. Der ist neben mir total verbrannt.

  • Mein Vater hat zwar versucht einige Male bei der Bannführung (das war die höchste Stelle damals im Bezirk von Bayrischer Ostmark, die höchste Hitlerjugendstelle, die Bann) dort hat er einige Male versucht, mich von der Hitlerjugend zu befreien, es ist ihm aber nicht gelungen. Er konnte nichts dagegen tun. Noch dazu war ich ja dafür! Ich habe immer wieder versucht, mich hervorzutun. Blöderweise.

  • Full recordings
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    Neukirchen, SRN, 03.09.2019

    (audio)
    duration: 01:38:33
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Wir sind bereit, den Tschechen die Vertreibung zu verzeihen, aber sie zu vergessen wäre Geschichtsfälschung

Josef, Winterberg, 1937
Josef, Winterberg, 1937
photo: pamětník

Josef (Sepp) Sager wurde am 8. Februar 1932 in Winterberg (Vimperk) geboren, wo er bei seinen Großeltern im Vorort Josefsthal (Josefův Důl) im Flusstal der Wolinka (Volyňka) aufwuchs, während seine Mutter als Köchin bei einer jüdischen Familie in Prag arbeitete. Im September 1938 trat er seine Schulpflicht an, nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich begrüßte er die deutsche Wehrmacht. Die Mutter kehrte daraufhin nach Winterberg zurück und ehelichte Anton Sager, der Sepp adoptierte. Der Vater diente in der Wehrmacht und kehrte vom Einmarsch in die SSSR als Kriegsinvalide zurück. Sepp trat 1942 gegen den klaren Widerstand des Vaters mit Begeisterung der Hitlerjugend bei, wurde im April 1945 als Dreizehnjähriger in der Flugabwehr geschult, beschoss sowjetische Kampfflieger und nahm an der gezielten Beschädigung von Straßen gegen die amerikanische Armee teil. Er erlebte auch den Einzug von tschechischen „Partisanen“ nach Winterberg und sah nach dem Krieg verstümmelte Leichen in der örtlichen Leichenhalle. Nach dem Krieg nahm er an einem misslungenen Versuch von Deutschen, Eigentum über die grüne Grenze nach Bayern zu bringen, teil und wurde fünf Tage in einem Keller von tschechischen Soldaten gefangen gehalten. Als Minderjähriger musste er in Winterberg gemeinnützige Arbeit verrichten. Im Augst 1946 wurde er mit seiner Familie über das Winterberger Sammellager nach Bayern vertrieben, wohin die leidvolle Reise neun Tage dauerte. Am Ende wurden sie im Keller des Gutshof vom grenznahen Grafenau untergebracht. Josef machte im nahen Schönberg eine Bäckerlehre und vervollständigte seine Bildung soweit, so dass er eine Position beim Finanzamt erhielt. Bei der Integration in die deutsche Gesellschaft halfen ihm zahlreiche sportliche Erfolge. Seine ideologische Einstellung während des Krieges sieht Herr Sager heute kritisch und spricht genau deshalb offen über sie. Seinen Geburtsort Winterberg besucht er seit 1989 regelmäßig und schloss dort eine Reihe von Freundschaften.