Angelika Cholewa

* 1955

  • „Ich habe überlegt und dachte, entweder bleiben wir hier und warten ab, bis sie Wachablösung haben, denn das war das, was wir vereinbart hatten, erstmal gucken, wann machen sie das, um zwölf, früh um sechs oder wann auch immer. Ich wollte mit meinem Mann absprechen, hatte aber gemerkt, dass er weg war. Ich konnte schwer rufen, wenn sie in der Hörweite waren. Dann ging ich rechts, weg von der Schneise, da war eine riesengroße Lichtung, so ein Bisschen sumpfig. Von der Lichtung sah man diese Grenzanlage. Der Zaun war ungefähr zwei Meter hoch, da war der schrage, dreireihige Stacheldraht.“ „Er kam ein Stückchen weg von dem Zaun auf die Lichtung, auf mich zu. Wir haben diskutiert, er wollte zurück. Ich sagte, wenn wir jetzt zurückgehen, werfen wir den Schatten, sehen die Stolperdrahte nicht und sie kriegen uns auf jeden Fall. Und außerdem habe ich mich entschieden nicht mehr zurück zu gehen. Wir hatten heftige Meinungsverschiedenheit und dann habe ich gesagt: ´Weißt du was? Geh du zurück und ich finde den Weg, ich gehe hinüber. Ich will nicht mehr. Ich will einfach nicht mehr zurück in den Saftladen.´ Und in dem Moment (und ich traue heute den Protokollen der Stasi nicht mehr, was ich da gesagt habe) ich weiß nicht, wer von uns beiden in den Stolperdraht reingeraten ist, jedenfalls paar Minuten später hatte man solchen Leuchtfeuer, wie Silvester, und beide standen wir ungefähr dreißig Meter von sich entfernt, wie erstarrt. Der Körper erstarrt, das ist auch Schutzfunktion. Das einzige, was funktionierte, war mein Kopf. Aber ich konnte mich nicht bewegen, unmöglich. Bei meinem Ex-Mann war es genauso. Wir haben angewurzelt so ungefähr eine Viertelstunde da gestanden. In der Zeit sind die beiden Soldaten durch den Zaun durch, mit den Taschenlampen an den Zaun entlang, aber den Taschenlampenkegel an den ungepflegten Streifen gerichtet. Und den Schäferhund an der Leine. Sie sind praktisch an uns schon vorbei gewesen, obwohl wir mitten in der Lichtung standen, haben sie uns nicht gesehen, sie konzentrierten sich auf den Streifen. Nach meinem Gefühl hätten die noch drei Schritte gemacht und dann wären sie schon hinter dem nächsten Waldstück gewesen und hätten uns nicht mehr sehen können. Und ich merkte, wie bei mir die Füße wieder Blut bekamen und dachte: ´Jetzt gucken wir, wie sie da durchgekommen sind.´ Und in dem Moment rief mein Ex-Mann: ´Hier sind wir!´ Und das war´s dann.“

  • „Nach dem Abend war mir klar, ich musste selber klarkommen. Und dann habe ich mir gesagt: ´Ok, ich gehe dahin und das Einfachste, was ich machen kann, ist, ich erzähle einfach alles, was sowieso alle wissen. Und was ich in den privaten Räumen höre, das erzähle ich halt nicht. Damit lüge ich ja nicht.´ Ich brauchte aber nicht lange auszuhalten, weil beim dritten oder vierten Mal habe ich einen konkreten Auftrag bekommen. Und zwar haben ja die beiden deutschen Staaten die Reiseerleichterung für die Bundesbürger ausgehandelt zu dem Zeitpunkt. Es war das erste Jahr, das Bundesdeutsche mit dem Auto einreisen durften. Ich glaube es was Ostern. Jedenfalls bekam ich einen Auftrag. Ich sollte mich mit einer Schülerin aus meiner Schule anfreunden, sie war nicht in meiner Klasse, sondern einer anderen Klassenstufe und ich sollte herausfinden, wann sie sich mit ihrem Brieffreund trifft. Wo und wann. Und dann habe ich ihn angeguckt und sagte: ´Sie wollen mir nicht erzählen, dass Sie die Liebesbriefe mitlesen?´ ´Doch!´“ „Jedenfalls habe ich mir in der Nacht wirklich Gedanken gemacht. Der erste Gedanke war ich nehme mir das Leben, dann habe ich mir vorgestellt, wie schwer es meine Mutter hätte, wenn ich weg wäre… Dann habe ich überlegt, dass ich abhaue, aber ich wusste nicht wohin, in dem Alter. Ich habe gedacht, es muss eine Lösung geben, ich konnte nicht schlafen, saß auf meinem Schreibtisch vor dem Fenster und dachte: ´Springst du oder findest du eine Lösung?“ Dann habe ich zwei, drei Stunden geschlafen, es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Und dann war ich nächsten Morgen bei der katholischen Kirche dabei und habe zu meiner Oma und liebem Gott gebeten und sagte: ´Bitte, gib mir eine gute Idee´. Ich wusste nicht, was ich tue, aber ich wusste, ich mache da nicht weiter. Und dann ging ich in die Schule, habe mich erkundigt nach dem Mädchen und habe sie gebeten, dass wir uns in der großen Pause am Rande von Schulhof treffen. Und dann habe ich ihr alles gesagt, was ich wusste, und sagte: ´Du brauchst keine Angst zu haben, ich mache da nicht mehr mit.“

  • „Und in Pilsen, das muss ich ehrlich sagen, habe ich gedacht, das überlebe ich nicht. Nicht nur die Tatsache, eingesperrt zu sein. Aber sich eine Woche nicht waschen können. Eine Woche nicht die Zähne putzen können. Ich einem Blechnapf früh… Geweckt werden mit an die Tür treten. Früh einen Blechnapf mit heißem Malzkaffee, der so heiß war, dass man ihn gar nicht trinken konnte und fünf Minuten später hat man ihn wieder weggeholt. Den ganzen Tag nichts zu trinken bekommen, außer da war ein kleines Waschbecken und wenn man das Wasser aufgedreht hat, dann kam rostiges Wasser heraus. Das war schon schlimm. Und das Mittagessen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Mir fiel immer dieser Titel von Fallada ´Wer einmal aus dem Blechnapf frißt…´Das war so demütigend. Es kam mittags so etwas Ähnliches wie die Knedliki, nicht die richtigen. Dann so eine Soße, da haben sie meiner Meinung nach absichtlich Pfefferoni hereingemacht, mit ganz großen Fettaugen. Davon habe ich einmal einen Tropfen genommen und es hat mich schon geschüttelt. Ich habe innerhalb von einer Woche Pilsen und einer Woche Prag zwanzig Kilogramm abgenommen.“

  • „In diesem Gefängnis war es so, wenn Sie zu dem Zahnarzt mussten, mussten Sie acht Wochen warten. Und bei mir war eine Plombe locker geworden, ein Teil war schon herausgefallen. Ich hatte mich zum Zahnarzt gemeldet, bin auch dran gekommen. Und dann bohrte er das Loch auf, guckte auf die Uhr und sagte: ´Ich habe jetzt Feierabend.´ Ich sagte: ´Sie wollen jetzt nicht das Loch offen lassen?´ Er sagte: ´Doch, ich habe jetzt Feierabend.´ Dann habe ich wirklich gebettelt, ich sagte: ´Bitte, machen Sie mir wenigstens eine provisorische Füllung rein!´ Aber er entließ mich mit dem aufgebohrten Zahn. Dann passierte, dass irgendetwas da reingekommen ist. Ich habe zwar immer vorsichtig gegessen, aber irgendwann war es so weit. Ich habe eine richtige Kieferhöhlevereiterung bekommen. Ich wurde nicht behandelt, ich wurde nicht zum Arzt gelassen. Ich hatte hohes Fieber, ich war schon im Delirium, ich wollte schon nicht mehr leben. Dieser Kampfgeist, diese Kraft, mich zu schützen, oder auch zu provozieren, damit ich mich geschützt fühle, der war schon weg.“

  • „Am nächsten Tag haben sie mich verlegt. Man nennt das Tigerkäfig. Das sind Zellen, da wird das Bett an die Wand geschraubt, es ist wirklich wie im ZOO, so ein Gitter. Nur auf Toilette können Sie gehen. Dann war dort so ein kleiner Glasbaustein, vorne und hinten, das kennen Sie vielleicht von anderen Gefängnissen, wo die Luft reinkam. Und am sonsten war die Zelle ungeheizt. Und das am 24.12., ich habe jetzt im Internet geguckt, es waren um die Null Grad, weniger als Null Grad. Eine Doppeltür, so dass ich auch wenn ich geschrien habe, nicht gehört werde. Wie ich das überlebt habe, weiß ich noch nicht, keine Ahnung. Ich weiß nur noch, dass ich Gluck hatte, das meine Mutter zwischen den Feiertagen, also zwischen Weihnachten und Silvester, die Möglichkeit hatte, mich zu besuchen. Ich weiß wirklich nicht viel, man kriegt weniger zum Essen und ich habe glaube ich auch eine Blasenentzündung gehabt und sie haben mich nicht zum Arzt gelassen. Es sind wirklich alles nur Fragmente, die bei mir herumspringen. Aber bei meiner Mutter sind die Erinnerungen wieder hochgekommen, ich habe sie vor kurzem gefragt: ´Wie hast du die Begegnung in Erinnerung?´ Da konnten ich noch selbst laufen. Sie hat mir erzählt, das zwei Wachhabende mich geführt haben, mich an den Tisch gesetzt haben, Kopf auf den Tisch gelegt haben und dass ich keinen normalen Satz reden konnte. Und das einzige, was ich zusammengekriegt habe, war meiner Mutter zu sagen: ´Bitte beschwere dich bei der Generalstaatsanwaltschaft. ´ Das hat meine tapfere Mutter gemacht, die Briefe gibt es noch. Sie hat an Erich Honecker geschrieben, an den Generalstaatsanwalt in Berlin. Und ich weiß noch nicht wann, ich hatte noch nicht die Kraft es herauszufinden, aber in der ersten oder zweiten Januarwoche bin ich wieder herausgekommen. Und am 11. Mai bin ich dann endlich in den Westen entlassen worden.“

  • Full recordings
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    Praha, 22.06.2020

    (audio)
    duration: 02:03:38
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Die Stasi hat mich während meiner Kindheit gebrandmarkt und die tschechoslowakischen Grenzbeamten haben meine Flucht in die Freiheit verhindert

Angelika Cholewa während einer Polizeiuntersuchung in der DDR, 1980
Angelika Cholewa während einer Polizeiuntersuchung in der DDR, 1980
photo: Pamětník

Angelika Cholewa, geboren Grassme, wurde am 13. September 1955 in der Stadt Naumburg an der Saale in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik geboren. Im Alter von sechzehn Jahren wurde sie von Mitarbeitern der Stasi kontaktiert und von ihnen aufgefordert, Informationen zu ihren Mitschülern zu liefern. Im Jahr 1980 versuchte sie erfolglos, zusammen mit ihrem Mann den Eisernen Vorhang bei Bayerisch Eisenstein zu überwinden. Zwei Wochen lang verbrachten sie somit in Gefängnissen in Pilsen-Bory und in Prag Pankrác, später wurden sie den ostdeutschen Ermittlern übergeben. Angelika wurde im Januar 1981 zu drei Jahren Haft verurteilt, bis zum Jahr 1982 war sie in einem speziellen Frauengefängnis in Hoheneck. Später wurde sie zu drei weiteren Jahren für den Versuch der Verbreitung von Informationen über die dortigen Bedingungen verurteilt. Die letzten Monate verbrachte sie im Gefängnis in Halle, wo sie physisch und psychisch terrorisiert wurde und zum Beispiel durch einen unvollendeten zahnärztlichen Eingriff zu einem fieberhaften Delirium gebracht wurde. Dort war sie auch in einer speziellen Einzelzelle, die sie „Tigerkäfig“ nannte. Im Mai 1983 wurde sie in ein Programm eingeschlossen, in welchem die DDR ihre politischen Gefangenen für eine Devise ihrem westlichen Nachbarn verkauft hatte. In der BRD studierte Angelika Cholewa Psychologie und arbeitete als Personalcoach. Heute lebt sie wieder im gebürtigen Naumburg und verarbeitet die traumatischen Erlebnisse ihres jungen Erwachsenenlebens.