Astrid Pilz

* 1940

  • „Und meine Mutter und ich, wir standen am Straβenrand, sie hat mir dann immer verboten, ich darf in Aussig nicht deutsch mit ihr reden. Oder überhaupt nicht reden, wenn dieser Gefangenenzug von Lerchenfeld in die Stadt gebracht wurde oder aber zurück kam. Meine Mutter hat dann immer versucht ihrer Schwester eine Kleinigkeit zum Essen zu stecken, was aber nicht immer gelang. Aber dann muβte ich immer ganz still daneben stehen“.

  • „Aber wir wurden dann in einen Raum gebracht und durften uns dort nicht raus bewegen. Ein Junger Mann wurde dann reingebracht, den haben sie vor unseren Augen an einen Schranktür gestellt mit Gesicht zum Schrank und immer mit dem Kopf gegen den Schrank gedommelt. Der soll seine Armbinde abgenommen haben und deswegen bestraft worden sein. Die weiβe Armbinde. Das hat man uns dann erzählt. Wir muβten dann die ganze Zeit da drin sitzen, wuβten überhaupt nicht warum. In diesem Raum sitzen. Keiner hatte eine Ahnung und kurz wie es dann Abend wurde, das muss so gegen sieben Uhr gewesen sein, halb acht, hiess es ihr könnt nach Hause gehen. Das hätten wir aber nicht geschafft nach Lerchenfeld zu Fuβ laufend. Bis um acht Uhr, denn da war die Ausgangssperre für die Deutschen. Und da ist meine Mutter mit mir zu einem befreundeten Becker gegangen und meine Mutter hatte da geklingelt und die Tür aufgemacht wurde, haben die gesagt: ´Um himmels willen, wo kommt denn ihr her?´ Wir haben gesagt: ´Ja, vom Bahnhof…´ ´Ja, wisst ihr denn nicht was passiert ist?´ Und dann haben wir mitbekommen, dass also die Leute, die auf der Straβe waren, die Deutschen, die auf der Straβe waren, getötet worden sind und über die Brücke geschmissen worden sind. Da hatten wir eigentlich Glück. Da muβ es eben jemanden am Bahnhof wirklich gegeben haben, ein tschechische Beamte oder Offizier, wie auch immer, das weiβ ich nicht, der uns davor bewahrt hat. Dann haben wir dort übernachtet bei diesem Freund und sind am nächsten Tag nach Lerchenfeld weiter.“

  • „Ja, da musste man nach Marienfelder und dort wurde man, musste man (das hat mein Vater erzählt, da musste ich nicht mit) erklären, warum er geflüchtet ist mit seiner Familie und er wurde auch von den Amerikanern verhört, die waren daran interessiert, wie die Zustände in der DDR waren und da musste man den Antrag stellen, daβ man in der Bundesrepublik leben wolle. Und auch begründen, was die Ursache war. Und dann bekam man also ein Dokument und in der Bundesrepublik gab es ja einen Vertriebenenausweiβ und dann gab es in diesem Vertriebenenausweiβ dann hinterher noch einen Vermerk, daβ man auch noch Flüchtling war. Das war natürlich für meine Eltern schon schlimm. Die fingen in Rostock wieder an sich einigermaβen zu etablieren und einzurichten und nach acht Jahren war das den wieder so weit, daβ sie nur mit Rucksack und Dokumenten in Westberlin aufgeschlagen sind und wieder neu angefangen haben.“

  • „Darüber habe ich schon oft nachgedacht…Ja, ich fühle mich verbunden mit der Heimat, oder mit der Landschaft, mit der Gegend, wo ich geboren wurde. Immer noch. Aber ich würde da nicht wieder hinziehen wollen. Nachdem ich acht Jahre in Rostock gelebt habe, fünfzehn Jahre in Berlin und jetzt schon so viele Jahre seit neunundsechzig in Wolfratshausen, habe ich wirklich ein Problem zu sagen, was ist Heimat. Heimatliche Gefühle, würde ich sagen, habe ich nach wie vor, obwohl ich ja noch ein kleines Kind war, mit der Gegend aus meinem Geburtsort. In Wolfratshausen fühle ich mich heimisch, aber das ist nicht dasselbe. Das ist eher zu Hause. Es ist diese Verbundenheit, die ich über meine Eltern in der Heimat verlebt habe oder empfunden habe. Die habe ich mit Bayern nicht.“

  • Full recordings
  • 1

    Drážďany, 18.06.2021

    (audio)
    duration: 59:02
    media recorded in project Inconvenient Mobility
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Jemand muss uns gewarnt haben, wir sind nur um ein Haar dem Massaker von Aussig entkommen

Porträt der Zeitzeugin
Porträt der Zeitzeugin
photo: Astrid Pilz

Astrid Pilz, geborene Hausmann, wurde am 12. Mai 1940 in Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem) geboren. Der Vater Alfons Hausmann kam aus einer deutschen Gutsbesitzerfamilie in Lichtowitz (Litochovice). Kurz nach Astrids Geburt wurde er als Deutscher an die Front abkommandiert. Astrid und ihr Vater trafen sich erst wieder, als sie sechs Jahre alt war. Die Mutter Ingeborg Hausmann kam aus Praskowitz (Prackovice), ebenfalls aus einer deutschen Gutsbesitzerfamilie. Astrid wurde zusammen mit ihrer Mutter indirekte Zeugin des sogenannten Massakers von Aussig am 31. Juli 1945. Im August 1945 wurden sie über Dresden und Thüringen bis nach Mecklenburg, der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, ausgesiedelt. Ende des Jahres 1946 sah sie ihren Vater wieder, der den Kampf bei Stalingrad und die Gefangenschaft in einem sibirischen Lager überlebte. Ab 1947 besuchte Astrid die Schule in Rostock. Im Jahr 1954 entschieden sich die Hausmanns für die Flucht nach West-Berlin. Nach dem Studium an der Freien Universität Berlin heiratete sie den Physiker Walter Pilz, der ebenfalls aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde, sie wurden Eltern einer Tochter. Im Jahr 1963 nahm sie persönlich an der Rede des amerikanischen Präsidenten Kennedy im geteilten Berlin teil. Aufgrund der Arbeit ihres Mannes zogen sie 1969 nach München, wo Astrid Pilz an einem Gymnasium lehrte. Ihre Heimat sah sie erst wieder 1962 zusammen mit ihren Eltern, als sie dort Verwandte besuchten. Heute ist sie im bayerischen Wolfratshausen zuhause.